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Alt 10.12.2011, 16:34   #27
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Registriert seit: 10.11.2007
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Beiträge: 9.157
Das ist ein Thema, das mich auch sehr beschäftigt und über das ich mich enorm ärgere. Ich nutze die Gelegenheit zu einem Rundumschlag aus:

Ich komme zuerst zum Punkt Terminüberflutung der Kinder in der Freizeit. Ich finde auch, dass viele Eltern es hier übertreiben. Die Freizeit ist vollkommen durchorganisiert und es bleibt wenig Zeit für die freie Selbstentfaltung. Das gilt allerdings nur für eine eher kleine Teilgruppe der Eltern, die sich wenigstens um ihre Kinder kümmern. Daneben gibt es die leider große Gruppe derjenigen, die sich nicht um ihre Kinder kümmern können oder wollen und sie weitgehend allein vor dem Fernseher oder dem Computer parken. Das sind Dinge, mit denen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen müssen. Ein Kind ist weder ein Projekt, in dem die Eltern alles verwirklichen müssen, was sie selber nicht bekommen oder nicht geschafft haben, noch sollte man es in die Welt setzen und es dann sich selbst zu überlassen oder die Verantwortung für die Erziehung ganz auf Kindergärten und die Schule abschieben. Die Schule kann nicht das ersetzen oder nachholen, was die Eltern versäumt haben.

(Einschub: In Punkto Terminflut ist allerdings zu berücksichtigen, dass es in unserer alternden Gesellschaft viel weniger Kinder als früher gibt. Als Kind brauchte ich nur vor die Tür zu treten, um einen Haufen anderer Kinder zu treffen. Damit sich meine Kinder mit anderen Kindern treffen konnten, mussten sie ständig herumkutschiert werden, da es in unserer Wohngegend kaum Kinder in diesem Alter gibt. Die vielen Aktivitäten sind also auch Treffpunkt und Ersatz für das, was früher einfach vor der Haustür stattfand).

Wichtig ist, sich den Kindern zu widmen und darauf zu achten, dass sie statt in dem Alter unnötige Technikkenntnisse (z.B. so ein Unsinn wie Kindergärten ins Internet) erstmal die sozialen Fähigkeiten entwickeln. Zu früher Eintritt in die Schule oder gar eine Verschulung des Kindergartens ist nicht der richtige Weg. Davon nehme ausdrücklich die Erkennung und Förderung von zu Hause vernachlässigten Kindern aus.

Für meine Kinder gab es in den ersten Lebensjahren kein Fernsehen und danach auch nur äußerst spärlich. Beide sind auch jetzt in der Pubertät noch Leseratten und erstaunlicherweise wird Fernsehen auch kaum nachgefragt. In dem Punkt haben wir aber sicher Glück, denn ich hatte als Kind wesentlich mehr Interesse am Fernsehen, obwohl ich auch viel gelesen habe. Meine Eltern hatten sich allerdings bewusst gegen einen Fernseher entschieden. Der erste Fernseher kam ins Haus, als ich 13 Jahre alt war.

Punkt zwei ist die Bildungspolitik. Hier werden seit Jahrzehnten ideologische Grabenkämpfe ausgetragen. Es werden von allen Parteien die tollsten Versprechen gegeben (und auch viele blödsinnige), aber nicht eingehalten. Die Bildungspolitik wird von Leuten gemacht, bei denen ich den Eindruck habe, dass sie nie eine Schule oder Universität von innen gesehen haben und sich auch nicht an ihre Kindheit erinnern oder vielleicht nie eine gehabt haben. Einwände und Anregungen von Eltern werden nur gehört, wenn sie sich mit dem Parteiprogramm decken. Beginnen wir bei der Schule:

Hier tobt der Kampf um Gesamtschule oder dreigliedriges Schulsystem. Je nach Wechsel der Landesregierung wird mal die eine oder die andere Schulform beschnitten. Aus den ersten Pisaergebnissen wurde teilweise platt gefolgert, dass Gesamtschulen besser sein als dreigliedrige Schulen, weil das erfolgreiche Finnland auf Gesamtschulen setzt. Der Unterschied liegt aber nicht in der Schulform, sondern in kleineren Klassen und individuellerem Eingehen auf die Schüler, letztlich also in der Entscheidung, mehr in die Ausbildung der Kinder zu investieren.

Besonders ideologiebelastet sind die Gesamtschulen. Konservative Regierungen versuchen ihnen so weit es geht, Steine in den Weg zu legen. Linksorientierte Regierungen probieren an den Schülern ihre neuesten Ideen aus. Das Problem ist, dass für die durchaus guten Ansätze nicht genug Lehrer zur Verfügung stehen. Sowohl die schwachen als auch die starken Schüler, auf die beide nicht richtig eingegangen werden kann, leiden darunter. Leistungsstarke Schüler bleiben weit hinter ihren Möglichkeiten zurück und schwache Schüler werden einfach mitgeschleift und völlig überfordert.

Die erste IGS, an der meine Frau (Gymnasiallehrerin) unterrichtet hat, erklärte stolz, dass praktisch kein Schüler die Schule ohne Abschluss verlasse. Wie das funktioniert, wurde ihr schnell klar. Schlecht ausgefallene Arbeiten wurden nicht genehmigt, Schüler können nicht sitzen bleiben und werden einfach mitgeschleppt. So bekommen dann Schüler einen Schulabschluss, die nicht mal richtig schreiben und rechnen können. Solche Schüler sollen dann in der 9. Klasse Literatur analysieren, die sie nicht mal ansatzweise verstehen. Aber der Lehrplan will das so. Gute Lehrer versuchen dann, unter Umgehung oder großzügigster Auslegung des Lehrplans, diesen Kindern erstmal die Grundlagen (also Lesen und Schreiben) beizubringen und Ihnen zu vermitteln, wie man eine ordentlich Bewerbung schreibt, ohne die diese Schüler keine Chance auf eine Stelle haben. Viele engagierte Lehrer verlassen nach einer Weile die IGS in Richtung Gymnasium, was wir auch an der Schule meiner Tochter leben durften.

Einer der großen Geniestreiche der letzen Jahre in der Bildungspolitik war das G8. Nicht mehr so lange sinnlos lernen, sondern lieber schnell in die Produktion. Meine ältere Tochter war im ersten Jahrgang der Opfer dieser Idee. Die Schulzeit wurde um ein Jahr gekürzt, aber der Lehrplan weitgehend in nun ein Jahr weniger hineingeprampft. Längere Schultage und Hausaufgaben ohne Ende waren die Folge (das kann in Bundesländern, die nie G9 hatten, anders ein, da dort vermutlich der Lehrplan gleich auf die kürzere Schulzeit ausgerichtet war). Mittagessen gibt es an der Schule nicht und auch keine richtige Mittagspause. Wie effektiv dann ein Unterricht in der 7. oder 8. Stunde ist, kann man sich vorstellen. Besonders einfühlsame Lehrer schreiben in diesen Stunden sogar noch Klassenarbeiten.

Auch bei Anpassung des Lehrplanes an die um ein Jahr verkürzte Schulzeit halte ich das G8 für falsch. Ich habe in der Oberstufe so viele wichtige Dinge gelernt, die ich nicht missen möchte. Eine breitgefächerte Bildung und das Verstehen gesellschaftlicher Zusammenhänge gehören zu dem Rüstzeug, das den Kindern für ihr Leben und auch für unser Land mitgegeben werden muss, um als Erwachsene verantwortungsvoll handeln zu können. Selbst wenn man die Betrachtung auf eine rein wirtschaftsorientierte Sichtweise verengt, ist dies notwendig. Ein Land, das von Fachidioten bestimmt wird und nicht in der Lage ist, menschlichen Bedürfnissen nachzukommen und soziale Gerechtigkeit herzustellen, wird durch innere Spannungen und ausgeschlauchte Bewohner weniger leistungsfähig sein.

Als meine zweite Tochter die Grundschule abschloss, entschieden wir uns, sie nicht auf das Gymnasium, sondern auf die Gesamtschule zu schicken, da es dort noch kein G8 gab (das wurde für die späteren Jahrgänge inzwischen geändert, herzlichen Dank an die Landesregierung ). Neben dem einen Jahr mehr an Schulzeit unterscheiden sich Gymnasium und IGS in unserer Stadt auch dadurch, dass in der IGS der Mensch spürbar im Mittelpunkt steht (das ist tatsächlich mehr als eine Worthülse), während das Gymansium in den Schülern eher nur Lernstoffempfänger sieht. Das hat natürlich wesentlich mit der Führung der Schule zu tun (auch organisatorisch ist das örtliche Gymnasium schwach) und weniger mit der Schulform. Nun ist das Kind an der IGS, hat dort Mittagessen, kommt mit gemachten Hausaufgaben nach Hause und hat wenig Stress. Leider ist es dort in den meisten Fächern ziemlich unterfordert und lernt herzlich wenig (das soll dann in der Oberstufe nachgeholt werden). Das lädt dazu ein, im Unterricht einfach abzuschalten oder Unsinn zu machen. Für einen Wechsel zum Gymnasium ist es zu spät, dazu hinkt die IGS viel zu weit im Lehrstoff zurück.

Woran unser Bildungssystem zudem krankt, ist eine Überlastung vieler Lehrer. Die Wochenstundenzahlen der Lehrer wurden mehrfach erhöht, die Klassengröße ebenfalls und die Anzahl der Schüler, bei deren Erziehung das Elternhaus versagt hat, ist auch eher zunehmend. Natürlich gibt es Fächerkombinationen, in denen wenig engagierte Lehrer eine relativ ruhige Kugel schieben können, aber die Mehrzahl der Lehrer muss enorm keulen, wenn sie ihre Arbeit ernst nimmt und einen guten Unterricht macht, von dem die Schüler etwas für sich mitnehmen und wo sie nicht nur ihre Zeit verplempern. Es ist nicht erstaunlich, dass der Lehrerberuf nicht mehr sehr nachgefragt ist.

Nach der Schule geht das Spiel an der Universität weiter. Als Intermezzo in meiner Berufstätigkeit in der freien Wirtschaft war ich einige Jahre in Forschung und Lehre an der Universität beschäftigt, kenne die Einrichtung also nicht nur als Student oder von außen. Auch hier zeichnet sich der Wertewandel (oder das Fehlen von Werten?) deutlich ab. Im Trend der Zeit werden Studiengänge oft konzeptionslos umgestaltet und gekürzt. Die Zeiten für Studien- und Diplomarbeiten wurden z.B. in meinem Fachbereich so gekürzt, dass darin überhaupt kein sinnvolle wissenschaftliche Arbeit möglich war. In der Praxis wurden die terminlichen Grenzen dann oft kreativ umgangen (was aber auch schon zu meiner Studentenzeit so war). Nach außen dann der tolle Eindruck, wir studieren kurz und konzentriert, aber in Wirklichkeit alles Lüge. Fauler Zauber, um bildungspolitischen Moden zu folgen. Ergänzt wird das Ganze durch eine Lehre, die im technischen Bereich in nicht unerheblichem Maße von drittmittelfinanzierten Mitarbeitern übernommen wird, die eigentlich mit ihren Projekten voll ausgelastet sind.

Die Straffung des Lehrplanes trifft die Universitäten auch wieder direkt im Forschungsbereich. Die Studenten haben kaum Zeit und es ist schwer, studentische Mitarbeiter zu finden. Die Veränderung konnte ich während meiner Zeit an der Universität drastisch spüren. Als Nebeneffekt sind die Studenten nun voll ausgelastet und kommen nicht auf die Idee, sich mit Hochschul- oder allgemeiner Politik zu beschäftigen oder gar unbequeme Fragen zu stellen.

Irgendwie dämmerte es der Politik, dass unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich von der Ausbildung der Menschen abhängt, da Deutschland direkt oder indirekt davon lebt, seine Ideen zu verkaufen, oder das, was aus diesen Ideen als Premiumprodukt erwächst. Der große Bruder Amerika ist a ja vieeel besser (ist er nicht)! Also müssen Eliteunis her. Es ist gar nicht schlecht, wenn zusätzliches Geld an die Hochschulen und in die Förderung begabter Menschen geht, aber mit ein paar Superwissenschaftlern allein können wir unsere Position nicht halten. Das ist wieder nur Kosmetik. Unsere Wirtschaft lebt davon, dass ein ganzes (leider stark schrumpfendes) Heer an möglichst gut ausgebildeten Ingenieuren (und anderen Akademikern) die Hochschulen verlässt. Nobelpreisträger sind für die meisten Aufgaben garnicht nötig. Trotzdem brauchen wir zweifellos die Spitzenwissenschaftler, um der Entwicklung in unserem Land Impulse zu geben.

Als weitere Maßnahme zur "Förderung" der Hochschulen wurde die Besoldung der Professoren reformiert. Sie sollte leistungsorientierter werden. In der Praxis ist es aber eher eine simple Kürzung der Professorengehälter geworden. Ein W2 Professor (das ist die einfache Klasse an den Universitäten und zugleich das übliche Gehalt der Fachhochschulprofessoren) bekommt nach der Besoldungstabelle von 2010 je nach Bundesland ein monatliches Bruttogehalt von 3890 bis 4370 Euro, ein 13. Monatsgehalt gibt es nicht. Natürlich kann man zweifellos gut davon leben, aber vergleicht man das mit Gehältern für herausgehobene Personen in der freien Wirtschaft, wird klar, dass es sehr schwierig ist, qualifizierte Wissenschaftler an den Hochschulen zu halten. Durch verschiedene Leistungszulagen kann das Gehalt zwar aufgebessert werden, aber Fachhochullehrer haben angesichts ihrer sehr hohen Semesterwochenstundenzahl praktisch kaum Gelegenheit dazu.

Insgesamt erscheint mir die Bildungspolitik als eine Geisterfahrt in einem Zug, der zudem noch alle 4 Jahre seine Richtung wechselt. Dem Lokführer fehlt die Kenntnis der Materie und er ist ohnehin nur auf diesem Posten, weil er anderswo nichts zustande gebracht hat. Der Zug allein ist eigentlich kein gutes Sinnbild, denn er hat ja wenigstens Schienen, die zum richtigen Ziel führen können. Aber es gibt ja noch die verwirrten Leute die die Weichen stellen.

Aus meiner Sicht ist wesentlich mehr Druck seitens der Eltern und Studierenden auf die Politik notwendig, um die Dinge wieder halbwegs ins Lot zu bringen. Bessere und menschlichere Bildung kostet viel Geld und das muss irgendwo abgezwackt werden. In Zeiten knapper Kassen und ausufernder Verschuldung ist das äußerst schwierig. Investitionen in diesem Bereich zahlen sich aber aus.

Auch die Eltern müssen sich iher Erziehungsaufgabe bewusst sein. Klare Leitlinien, Werte und auch Führung sind hier gefragt. Und Zeit für die Kinder haben. Wir haben uns nach kurzer Zeit gemeinsamer Berufstätigkeit entschieden, dass ein Eltenteil immer zu Hause bleibt, bis die Kinder annähernd erwachsen sind. Diese möglichkeit steht vielen Elten natürlich nicht offen. Das ist ein gesellschaftliches Problem, das der Lösung harrt.

Das musste mal raus.
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