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Alt 11.03.2005, 15:54   #5
Dimagier_Horst
 
 
Registriert seit: 08.09.2003
Ort: Hamburg
Beiträge: 18.423
Nr. 1: Wenn Du ein in sich kontroverses Thema anbietest, dann bekommst Du auch kontroverse emotionale Meinungen dazu. Mir gefällt das Bild überhaupt nicht, weil es aus der Perspektive des stehenden, des von oben nach unten Blickenden, gemacht ist. Und damit ist es Mittel zu irgendeinem Zweck, aber nicht Mittel der Auseinandersetzung mit dem anderen Individuum. Diese Frau vermittelt den Eindruck der Wehrlosen, und nun ist sie auch wehrlos gegen diese Aufnahme. Sie hat keine Chance zur eigenen Darstellung ihrer Persönlichkeit. Sie wird missbraucht zur Darstellung von Armut und spielt selbst keine Rolle, ist austauschbar und wieder einmal Opfer. Und dieser Eindruck entsteht durch genau diese Perspektive, den Gesichtsausdruck dieser Frau und weil sie nicht das Beiwerk einer Übersichtsaufnahme oder einer Strassenszene ist. Dieses Bild dokumentiert auch nicht, denn es klagt nicht an.
Warum ist dieses Foto nicht aus der Ebene dieser Frau gemacht? Auf Augenhöhe? Wo sie zeitlich und auch psychisch die Chance hat, "Nein" zu sagen? Wo auch ein Fotograf der Situation der Frage ausgesetzt ist: "Warum machst Du ein Bild, warum gerade von mir?"? Warum machen wir Bilder von unseren Haustieren auf Augenhöhe und trauen uns das nicht bei der eigenen Spezies, sobald sie unserer Normalität entwichen sind?

Und damit sind wir bei Bild Nr.2, wo genau das passiert: Individuen in normalen Situationen, teilweise von Auge zu Auge, ebenso austauschbar als Mitglieder der Durchnittsgesellschaft und nichts weiter als ein Blickfang. Aber sie wirken nicht wehrlos.

Was wirklich geschah, ob Du die Bettlerin gefragt hast oder nicht, spielt hier keine Rolle. Es ist nur der Eindruck, den die beiden Bilder für mich ganz persönlich vermitteln. Den Mut, mich mit einem Bettler ganz persönlich auseinanderzusetzen und um ein Portrait zu bitten, statt es mir zu nehmen, zu stehlen, habe ich noch nicht. Und genauso sehen meine Versuche dann auch aus. Und damit bin ich wieder bei Bild Nr. 1: Es ist mehr als ein Abbild der Umwelt, es kehrt eigentlich die eigene Hilflosigkeit im Umgang mit dem Gesehenen heraus.
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