Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Wann ist ein Bokeh eigentlich "retro"?
DerGoettinger
19.07.2020, 14:13
Hallo zusammen,
ich hab gerade in einem Review zu einem (neuen) manuellen Objektiv gelesen, dass das Bokeh "retro" sei. Mit anderen Worten: "moderne" Objektive heute würden typischerweise auch ein "modernes" Bokeh erzeugen. Leider war dort nichts darüber zu erfahren, wie genau sich dieses "Retro-Bokeh" bemerkbar macht, und die Google-Suche hat mich auch nicht weitergeführt.
O.k., die Zahl der Blendenlamellen soll sich über dier Jahre erhöht haben, und typischerweise sind die Lamellen heute auch abgerundet, während sie wohl "früher" (keine Ahnung, wann die runden aufkamen) eher gerade waren. Die grundsätzlichen Effekte gerader bzw. runder Lamellen sind mir klar, aber ist das wirklich der einzige Aspekt? Oder gibt es noch andere Sachen, die die Bokehs von früher anders aussehen lassen als heute? :shock:
Gute Frage - keine Antwort.
Um welches Objektiv handelt es sich denn?
Hast du das Objektiv mal mit einem anderen (ähnlichen) eines anderen Herstellers verglichen?
Was "retro" in Bezug auf Bokeh heisst... hmmm... kein Bokeh?
Wenn ich an Fotos von vor 100 Jahren Denke, dann kommen mir spontan Bilder ohne Bokeh in den Sinn.
steve.hatton
19.07.2020, 17:35
Wenn der Werbetexter dies so benennt :cool:
das ist die eine Möglichkeit :top: die andere ist, wenn man sich eher mäßige alte Linsen schönreden will :cool:
Mainecoon
19.07.2020, 21:28
Die alten Objektive hatten - da noch nicht mit der heutigen Präzision hergestellt - Fehler, die sich auf das Bild auswirkten. Die Ingenieure suchten auf verschiedenen Wegen und mit unterschiedlichen Materialien die Objektive zu optimieren. So unterschieden sich nicht nur die Objektive einer Firma von der einer anderen, sondern auch untereinander. Hinzu kommt, wie die Objektive gelagert bzw. behandelt wurden von ihren Nutzern. Außerdem waren bereits die damaligen Objektive den damaligen Filmqualitäten überlegen.
Das alles führte dazu, dass die Objektive sehr individuell waren und entsprechend auch individuelle Bokehs abbildeten. Etwa Anfang, Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts begannen alle Firmen, ihre Objektive gnadenlos auf Schärfe zu trimmen. Heute nehmen sie sich gegenseitig nicht sehr viel darin: Alle sind ziemlich scharf. Und bei allen ergibt sich ein beruhigtes, sehr weichgezeichnetes, homogenes Bokeh, das u.a. durch die computergestützte Herstellungsweise bedingt ist.
Interessanterweise sind die Hersteller nicht mehr in der Lage, den alten Look der Objektive wieder herzustellen. Man vergleiche z.B. das alte Meyer Görlitz Trioplan 100mm, das von Fans liebevoll "Bokehschleuder" genannt wird, mit der modernen Ausführung derselben Firma, die angeblich auf den alten Ingenieursplänen beruht. Der Vergleich fällt in der Regel eindeutig für das Original aus.
Übrigens ist es nicht korrekt, dass man sich die Schärfe bei alten Objektiven "schönreden" muß. So ist beispielsweise das Olympus 90mm 2.0 aus dem achtziger jahren immer noch das Referenzobjektiv für Makroobjektive. Aber es kann durchaus sein, dass durch falsche Lagerung, schlechte Herstellungsqualität oder schlichtweg mechanische Schäden ein Altobjektiv bei weitem nicht mehr das bringt, was es womöglich früher leisten konnte.
Wenn du dich noch weiter informieren willst, kannst du das z.B. hier (http://www.makro-treff.de/de/artikel/vintage-makrofotografie-malen-mit-der-kamera) tun. Da gibt es auch sehr viele Beispiele dafür, dass alte Objektive (bis zu 100 Jahre alt!) absolut scharf sein können - in den Händen von jemandem, der sich damit auskennt.
Viele Grüße
Mainecoon
öhm, sorry, wenn Du Dich auf den Schlips getreten fühlst, aber... ich schrieb weder, dass es keine wirklich guten Altgläser gibt, noch schrieb ich überhaupt irgendwas zu Schärfe ;)
Natürlich gibt es richtig gute alte Linsen, genauso (IMO deutlich öfter) aber auch werden mäßige Linsen gerne schöngeredet. Die Frage des TO ging ums Bokeh und - nun ja - da ist man sehr schnell in den unexakten Wissenschaften unterwegs.
Mainecoon
19.07.2020, 23:24
Alles gut, ich fühlte mich nicht angegriffen. Und wie ich ja schrieb, gibt es weitaus mehr mäßige Linsen als gute von den alten Schätzchen. Aber es gibt eben auch die Knaller, die sich wirklich nicht vor den heutigen verstecken müssen.
DerGoettinger
20.07.2020, 10:25
das ist die eine Möglichkeit :top: die andere ist, wenn man sich eher mäßige alte Linsen schönreden will :cool: In dem Fall eher nicht. Es ging um das Zenitar 85mm/f1.4, also ein in Produktion befindliches Objektiv.
DerGoettinger
20.07.2020, 11:22
Nochmal zur Ergänzung:
Ich bin durch das Review auf den Begriff gestoßen, konnte damit aber nichts anfangen bzw. mir nicht vorstellen, was denn ein Bokeh "retro" macht. Andererseits interessiert es mich schon, weil ich aus alten Zeiten bzw. durch Geschenke und Erbschaft ein paar alte 50mm-Objektive besitze, nämlich:
Auto Revuenon MC 1.4 (wahrscheinlich von Chinon)
Porst Color Reflex MC Auto f1.4 (wahrscheinlich von Conisa produziert)
Ricoh Rikenon f2
Minolta f1.4 (1. Generation)
Ich hab - angeregt durch die Diskussion - mal eben ein paar Testfotos gemacht (was vom Ergebnis her schon spannend war), hab aber leider kein aktuelles 50mm-E-Mount, um tatsächlich einen Vergleich zu einem "modernen" Bokeh zu haben. Ich weiß nicht, ob Interesse besteht, die Bilder hier trotzdem mal zu präsentieren.
Schlumpf1965
20.07.2020, 12:45
Ich hätte Interesse.
Bei der Beantwortung der Frage kann ich dir aber nicht wirklich helfen. Ich habe aber, hauptsächlich anderswo, schon viele Fotos von adaptierten alten Linsen gesehen. Was die unter Retro meinen!? Es wirkt halt irgendwie anders, lässt sich für mich aber schwer beschreiben. Der Link von Mainecoon zu Makro-Treff ist gut, da kam dann auch ein Sonderheft zu Vintage-Makrofotografie heraus. Sehr interessant http://makro-treff.de/de/makrofoto-sonderausgabe-2
DerGoettinger
20.07.2020, 14:57
O.k, ich versuch es mal.
Ich hab mal quer durchs Zimmer in den Küchenbereich fotografiert. Hinten an der Wand (ca. 12m entfernt) ist eine Unterschrank-Halogenlampe. Die hab ich jeweils 1x in die Mitte und dann oben links anvisiert. Leicht rechts unterhalb davon ist noch ein weiterer Bokeh-Dot. Der resultiert aus einer Reflexion auf dem Wasserhahn.
Die Objektive waren manuell auf geringster Fokusentfernung gestellt, außerdem hatte ich an der Kamera ISO 100 und Blendenautomatik eingestellt (o.k., möglicherweise hätte ich für eine noch bessere Vergleichbarkeit auch die Belichtungszeit vorgeben können, aber ich dachte mir, dass das ist hier nicht ausschlaggebend ist).
Das ist dabei herausgekommen (alle Bilder JPEG out of camera, lediglich auf Forumsgröße verkleinert):
|Minolta AF 50mm/f1.4|Porst Color Reflex f1.4|Auto Revuenon MC 1.4|Ricoh Rikenon f2
Lampe zentriert, f1.4 bzw. f2|6/Minolta_50-f14_-_Center_offen.jpg|6/Porst_50-f14_-_Center_offen.jpg|6/Revuenon_50-f14_-_Center_offen.jpg|6/Ricoh_50-f2_-_Center_offen.jpg
|ISO 100, 1/25 Sek., f1.4|ISO 100, 1/25 Sek., f1.4|ISO 100, 1/20 Sek., f1.4|ISO 100, 1/15 Sek., f2
Lampe in der Ecke, f1.4 bzw. f2|6/Minolta_50-f14_-_Ecke_offen.jpg|6/Porst_50-f14_-_Ecke_offen.jpg|6/Revuenon_50-f14_-_Ecke_offen.jpg|6/Ricoh_50-f2_-_Ecke_offen.jpg
|ISO 100, 1/15 Sek., f1.4|ISO 100, 1/25 Sek., f1.4|ISO 100, 1/15 Sek., f1.4|ISO 100, 1/13 Sek., f2|
Lampe zentriert, f2.8|6/Minolta_50-f14_-_Center_28.jpg|6/Porst_50-f14_-_Center_28.jpg|6/Revuenon_50-f14_-_Center_28.jpg|6/Ricoh_50-f2_-_Center_28_2.jpg
|ISO 100, 1/6 Sek., f2.8|ISO 100, 1/8 Sek., f2.8|ISO 100, 1/5 Sek., f2.8|ISO 100, 1/8 Sek., f2.8
Lampe in der Ecke, f2.8|6/Minolta_50-f14_-_Ecke_28.jpg|6/Porst_50-f14_-_Ecke_28.jpg|6/Revuenon_50-f14_-_Ecke_28.jpg|6/Ricoh_50-f2_-_Ecke_28.jpg
|ISO 100, 1/5 Sek., f2.8|ISO 100, 1/8 Sek., f2.8|ISO 100, 1/4 Sek., f2.8|ISO 100, 1/8 Sek., f2.8
O.k., man erkennt natürllich bei f2.8, dass allesamt keine abgerundeten Lamellen haben. Ich weiß gar nicht genau... haben die modernen nicht auch mehr Lamellen? Hier bewegen wir uns ja bei 6 (Rikenon), 7 (Minolta) und 8 (Porst, Revuenon).
Dann fällt mir noch auf, dass ich beim Minolta und beim Revuenon ganz leichte chromatische Aberationen habe. Beim Porst und beim Rikenon sehe ich spontan keine (zumindest keine auffälligen).
Links neben der Lampe, die ich fotografiert hab, steht übrigens ein silberner Kühlschrank. Wenn ich den in den Bildern vergleiche, scheint mir das Porst hier am weichesten. Aber ist das sowas retro?
Abgesehen von der Sache mit den Blendenlamellen sticht mir ehrlich gesagt nichts ins Auge, was ich sofort als besonders "retro" erkennen oder bezeichnen würde. Vielleicht relativiert sich das, wenn ich mal ein lichtstarkes E-Mount in die Hände bekomme... ;)
KDBerlin
20.07.2020, 16:29
So, nun habe ich ein wenig mit gelesen und möchte meine Vorstellung einbringen.
Vorab zur INFO: Ich adaptiere Objektive von 1932 bis 1965 an der R IV und X PRO 3.
Zu deinem Thread Titel: Man kann tatsächlich erhebliche Unterschiede feststellen zu heutigen Objektiven, was nicht nur an den Lamellen, den Gläsern, sondern auch an der Beschichtung liegt. Allerdings halte ich deine, wenn auch aufwendigen Testaufnahmen, für nicht aussagekräftig genug. M.M.n. wäre es besser ins "Grüne" zu gehen, Portraits und Landschaft auf zu nehmen und eine Blendenreihe von max. offen bis f 8 zu machen.
Ich weis ein großer Aufwand, aber dann zeigt sich am deutlichsten der Unterschied. Ein aktuell, neues Objektiv würde ich als heutigen Maßstab dazu nehmen.
Dann wirst Du sehen, das einige, offen, recht weich sind, zunehmend abgeblendet an Schärfe gewinnen und wie sich das Bokeh ändert. Die Rundheit der Lichtpunkte durch die Lamellenform ist fast nebensächlich, außer dem persönlichen Geschmack.
Ich habe ein Nikkor Kogaku von 1958 (50 1.4) wo sie wunderbar rund ohne Zwiebelringe sind sehr harmonisch sind, und auf der anderen Seite, Moderne AF Objektive, wo sie am Rande eiförmig, z.T. mit Zwiebelringen, unharmonisch angeordnet sind.
Weiterhin glaube ich auch nicht das das Bokeh allein aussagefähig ist. Ich sehe die gesamte Bildwirkung (auch mit dem Bokeh) als wichtiger an. Farbgebung, Weichheit, Vignette und lila Farbsäume. Bedenke Bitte das damals Farbfilme und Entwicklung auch sehr teuer waren. Erst gegen Ende der 60 er wurde es preiswerter, so dass die Objektive eigentlich für B&W ( 30 er bis Ende 60 er Jahre) entwickelt und mehr geeignet waren.
Schon die beiden Nikkor Kogaku, eines von 1958 50 mm 1.4 und eines von 1962 50 mm 2.0 (übrigens hat mit einem baugleichen Robert Frank jahrelang gearbeitet), die Unterschiede so auffällig sind, das man es sieht, mit welchem der beiden, welche Aufnahme gemacht wurde (bei gleicher Blende).
Um nun auf deinen Thread Titel noch einmal ein zu gehen:
Wenn ich den Unterschied zu heute herausstellen soll, dann würde ich sagen das das Bokeh der Vintage / Alten Objektive, ausgewogener, harmonischer, manchmal "verträumt", eben organischer und analog wirkt. Machmal kann es aber auch sehr chaotisch sein, wie beim Canon 50 0.95 und dann ist es wirklich sehr Geschmackssache.
Nachtrag: Was vielleicht noch eine Rolle spielt: Offen sind die "alten" meist nur in der Mitte Scharf und werden zzgl. der Vignette zum Rand hin weicher. Das beeinflusst natürlich auch das Bokeh. Bei den neuen z.Bsp. 24 1.4 GM ist das eigentlich fast nicht mehr der Fall.
Aber "alte" Objektive nutzt man ja auch wegen genau diesen Eigenschaften, um authentisch in der "Zeit" zu sein, ohne mit Software das aufwendig zu erzeugen.
Sicherlich gibt es heute hervorragende Objetive mit einem Traum Bokeh. Z.Bsp. das 100 STF, aber es ist halt sehr digital m.M.n.